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Bethlehem hier und jetzt: die heimatliche Weihnachtskrippe (Heimatkrippe)

Von Bernd Graf

Unter einer Krippe versteht man nicht nur den mit Heu gefüllten Futtertrog, in den das göttliche Kind nach seiner Geburt gelegt wird, sondern das gesamte heilige Geschehen, das innerhalb eines streng begrenzten Raumes mit beweglichen Figuren dargestellt wird. Nach der Definition des Krippenforschers Rudolf Berliner sind Weihnachtskrippen „Darstellungen der mit der Geburt Christi verbundenen Ereignisse, bei denen im wirklichen, dreidimensionalen Raum möglichst körperlich und lebendig wirkende Figuren so verteilt sind, dass im Betrachter das Gefühl entsteht, ihnen selbst beizuwohnen, damit in ihm die religiösen Gefühle in jener Stärke erregt werden, die dem erlebten Wunder angemessen ist“. Einfacher drückte sich der „Krippenpfarrer“ Johann Freitag aus, nach dem die Krippe „die räumlich-figürliche Kleindarstellung der mit der Geburt Christi verbundenen Ereignisse“ ist.

Persönliche Gestaltung des Ergriffenseins
Gemeinsam ist allen Krippenbauern der Wunsch, das Weihnachtsgeschehen zu vergegenwärtigen, Bethlehem hier und heute zu erleben bzw. erleben zu lassen, christlichen Glauben in schaubare Wirklichkeit zu verwandeln. Dabei ist eine Krippe nicht einfach die Wiedergabe der biblischen Weihnachtsberichte, sondern vielmehr „eine sehr persönliche Gestaltung des Ergriffenseins von der großen weihnachtlichen Freude, dass Gott sich in so über alles wunderbarer Weise um uns kümmert“ (Zitat: Helmuth Hofmann, Bonn 1993). Im Folgejahr in Gehülz bezeichnete Pfarrer i. R. Hofmann eine Krippe als eine Art „Kosmos im Kleinen“, der Lebensbezüge beinhalte, in denen sich die Krippenbetrachter wiederfänden.
Der Krippenkundler Gerhard Bogner nannte es „den legitimen Wunsch des Krippenbauers, seine eigene Lebenswelt darzustellen“ – gemäß dem Franz von Assisi zugeschriebenen Denkspruch: „Bauet die Krippe zum Lobe des Herrn, aber bauet sie nach eurer Heimat!“. So zeigen Heimatkrippen die mit Christi Geburt verbundenen Ereignisse in heimischen (Gegenwarts-)Kulissen, um das „Euch ist heute der Heiland geboren“ den Krippenbetrachtern besonders nahe zu bringen. Die Erbauer von heimatlichen Krippen verlagern also die Geburt Jesu in ihre jeweils eigene Umgebung – nach dem Motto „Christus ist für alle und zu jeder Zeit geboren“.

Vergegenwärtigung in großer Anschaulichkeit
Was als Anliegen der Kunst, speziell der Malerei, bei der Umsetzung des Geburtsmotivs beschrieben wird, gilt ähnlich auch für den Krippenbau: dem Betrachter soll die Szene vergegenwärtigt werden. Durch Elemente, die demjenigen, der das Bild verinnerlicht, bekannt sind, kann eine große Anschaulichkeit erreicht werden. Die Übersetzung einer Szene in den Erfahrungshorizont des Schauenden ist dabei wichtiger als die Absicht, ein authentisches Abbild zu zeichnen. Die Volkskundlerin Prof. Dr. Elisabeth Roth beschreibt die Heimatkrippe als das Hineinstellen des Weihnachtsfestkreises in die nächste Umwelt, in malerische Winkel einer Stadt, in den Stall neben einem Bauernhaus, in die heimische Landschaft. Wer die Vorstufe der Krippe in Bildkunst und Schauspiel bedenke, könne erkennen, wie seit dem Spätmittelalter das heilige Geschehen vor der heimatlichen Landschaft oder in der Bürgerstube sich vollziehe.
Nach Elisabeth Roth ist Heimatkrippe bei den fränkischen und bayerischen Krippenfreunden ein fester Begriff. Laut Roths Definition im „Bayerischen Krippenfreund“ (252/1985) bedeutet Heimatkrippe, „das einmalige historische Weihnachtsgeschehen im fernen Palästina in der Jetztzeit der eigenen bekannten Umwelt jährlich konkret vor Augen zu führen“. Hierzu, so Roth, diene Vergegenwärtigung durch unverkennbar einmalige oder allgemein landschaftstypische Bauwerke.
Die heimatliche Weihnachtskrippe (Heimatkrippe) wird häufig als Gegensatz zur orientalischen Krippe gesehen. Die entrückte und fremdartige Welt des Orients wird in die vertraute heimatliche Umgebung gewandelt. Jeder fängt in seiner Krippe seine eigene Heimat ein. Das spielerische Hineinnehmen des Lebensalltags mit genauer Wiedergabe der Umwelt soll auch ein intensives Miterleben ermöglichen. In der Literatur werden der Heimatkrippe drei wesentliche Merkmale zugeschrieben: Erstens ist sie in die jeweilige heimatliche Wirklichkeit eingebunden; zweitens verliert sie sich an beschauliche Einzelheiten und liebenswürdige Kleinigkeiten; und drittens spricht sie dadurch betont das Gemüt an. In seinem „Großen Krippen-Lexikon“ (München 1981) gibt Gerhard Bogner eine zumindest fragwürdige Empfehlung: „Eine Krippenlandschaft sollte von beidem etwas sagen: von Palästina als Heimat des Heilands […] mit bezwingender Fremdheit, aber auch von der heimatlichen Landschaft, in die Christus als Erlöser von Mensch und Natur kommt.“

Eingliederung in das eigene Erfahrungsumfeld
Die Idee, die Vorgänge um Christi Geburt durch frei bewegliche Figuren darzustellen, wurde erstmals im Laufe des 15. Jahrhunderts verwirklicht. Der Brauch, Weihnachtskrippen in Form kleiner Bühnen aufzubauen, entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts und breitete sich rasch aus. Die Krippe, die mit ihrem Einzug in die Wohnstuben um 1700 zu einem Gegenstand der Volkskunst wurde, erfuhr in der Folgezeit eine weitere Vervolkstümlichung und eine Eingliederung des Heilsgeschehens in das eigene Erfahrungsumfeld des Krippenbauers bzw. -betrachters. Typische Heimatkrippen entstanden dadurch, dass Hauskrippen immer weiter durch volkstümliche Szenen ausgeschmückt wurden. Die verschiedenen Krippenverboten folgende Wiederzulassung der allgemeinen Krippenpflege in Bayern (1825) löste einen Aufschwung gerade der Heimatkrippe aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Krippenlandschaft dahingehend, dass das Geburtsereignis immer öfter in die eigene Mitte verlegt wurde, dass also Heimatkrippen zunehmend in den Vordergrund traten.
Wie beeindruckend die Idee der Heimatkrippe bei der Ausstellung der Bamberger Krippenfreunde im Jahr 1933 umgesetzt war, lässt sich anhand der Berichterstattung im „Bamberger Volksblatt“ nachvollziehen, in dem damals stand: „Man meinte, just in Frankens Gauen wäre das Heil der Welt auf die Erde gestiegen, um in Alt-Bamberg uns Friede und Freude zu bringen.“ Ganz im Gegensatz dazu erwähnte Hans-Günter Röhrig in seinem „Fränkischen Krippenbuch“ (Bamberg 1981), dass in der Krippenbauschule zu Bamberg die Einheimischen vorläufig noch alpenländische, speziell Tiroler Krippenbauten bevorzugten, was Elisabeth Roth unter anderem auf einen Mangel an fränkischem Selbstbewusstsein zurückführte. Im Ausstellungsführer „Fränkische Krippen“ (Maternkapelle Bamberg 1987/88) wurden die gezeigten figürlich-räumlichen Darstellungen der Heilandsgeburt so beschrieben: „Es sind Kastenkrippen mit zumeist vergleichsweise großen, gekleideten Figuren, bedacht auf die illusionäre Wirkung der Bühne mit raffinierter Ausleuchtung.“

Heimatkrippen vom Obermain und Frankenwald
In „Krippenstadt Bamberg“ (Bamberg 1989) behandeln Emil Bauer und Hans-Günter Röhrig auch die „emotionalen Heimatkrippen ohne Idylle“ von Florian Hofmann aus Neuensee, der 1994 auch die Kulisse für die Gehülzer Heimatkrippe (Heunischenburg-Krippe) schuf. „Florian Hofmanns Krippen verraten treffendes Milieu und oft eine tiefere Bedeutung“, heißt es in dem Buch. 1995 verlegte Florian Hofmann die Szene „Ruhe auf der Flucht“ in das obere Maintal. In dieser Krippenszene sind bei der Heiligen Familie ein alter geflochtener Kinderwagen und ein landschaftstypischer Tragekorb zu sehen. Ein kunsthandwerklicher Korbflechter in Michelau hat diese Miniaturen geschaffen – wie auch den Miniatur-Huckelkorb für die Holzholerin in der Gehülzer Heimatkrippe. Das Motto, unter dem der Vorstellungsabend dieser Kirchenkrippe stand, bekommt angesichts einer Heimatkrippe eine ganz besondere Aussagekraft: „Wo wir an der Krippe stehen, ist die Erde heimatlich“ (Zitat: Siegbert Stehmann, 1945 gefallener Dichter-Pfarrer).
Eine besondere Heimatkrippe aus dem Landkreis Kronach soll an dieser Stelle noch beispielhaft Erwähnung finden. Der 1995 verstorbene Waldbauer und Heimatkünstler Ewald Müller schuf im halben Jahrzehnt vor seinem Tod die Ludwigsstädter Heimatkrippe „Heilige Nacht im thüringisch-fränkischen Schiefergebirge“. In vielen Details stellte der heimatverbundene Schnitzer den Alltag der Menschen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dar. Als Mittelpunkt, auf den hin sich die gesamte Szenerie konzentriert, bestimmte er das „Geburtszimmer des Welterlösers“. Links vom Geburtsstall dokumentierte Ewald Müller mit seiner ausdrucksstarken Schnitzweise die einzelnen Stationen zur Schiefertafelherstellung, rechts die verschiedenen Arbeitsgänge zur Fertigung der als Schreibgeräte dienenden Schiefergriffel. Dass die Frohbotschaft ihren Gang um die Welt „auch mit Schrift, erlernt auf Tafel mit Schieferstift“, nimmt, davon zeugen auf der Schulbank sitzende Kinder, die mit Hilfe von Schiefertafel und Griffel das Schreiben erlernen.

Immerwährende Gegenwart der Christusgeburt
Die zunehmende Eingliederung des Heilsgeschehens in das gestalterisch mehr und mehr ausgeprägte, eigene Erfahrungsumfeld wurde teilweise auch negativ bewertet als „partielle Säkularisierung“ und als Sinnverlust, der Jesu zentrales Anliegen der „radikalen Umkehr des Menschen“ in den Hintergrund drängt (vgl. dazu Walter Hartinger in „Der Bayerische Krippenfreund“ 339/2007). Dass wir es bei der Heimatkrippe mit einer recht eigenwilligen, im Hinblick auf den Bibeltext eigentlich falschen Umstellung zu tun haben, darauf wies Gudula Bonell (Bamberg 1973) hin. Und bereits 1965 hatte Karl-Otto Schimpf (in der Verbandszeitschrift „Der Bayerische Krippenfreund“) von der „Problematik der Heimatkrippe“ geschrieben.
Der schon oben zitierte Johann Freitag verteidigte die Heimatkrippe mit dem theologischen Argument: „Bethlehem ist überall, an allen Orten kann Christus geboren werden.“ Auf Bethlehems Fluren habe die Botschaft geheißen: „Heute ist euch der Heiland geboren.“ Dieses „große Heute“ sei mehr als der augenblickliche Tag; gesprochen sei es zu Menschen, die „im konkreten Heute dieser Welt und Geschichte“ leben. „Darum“ – so Pfarrer Freitag – „haben wir auch in der Krippenschau das Weihnachtsgeschehen ins Hier und Heute verlegt. Denn das Krippengeschehen ist heute, immerwährende Gegenwart, das dann in den kommenden Geschlechtern weiterwirkt bis in die Endzeit.“ In einer Krippenmarkt-Reportage in der Süddeutschen Zeitung vom 20. Dezember 2008 werden das Grundprinzip der Heimatkrippe (ohne diesen Begriff zu nennen) und seine Rechtfertigung so auf den Punkt gebracht: „Weil die Ankunft des Erlösers alle Menschen betrifft, geht die Ortsverlagerung wohl auch theologisch in Ordnung.“

Bethlehem ist überall und jederzeit, hier und jetzt
Alfred Läpple bezeichnet im „Bayerischen Krippenfreund“ (333/2005) die Krippenkunst als „Gespräch der Gegenwärtigsetzung“ und stellt dazu fest: „In ehrfürchtiger Respektierung des Gotteswortes müht sich die Krippenkunst um die ‚Verheutigung’, um die ‚Krippe für mich’, für unsere Familie, für unser Gottesvolk.“ Die Krippler, so Läpple erfreut, hätten ein feines Fingerspitzengefühl für die Inkulturation der Krippe. „Gewiss, manches ist kühn, ungewohnt, verwegen. Es ist aber nie banal, nie provokativ, nie Ärgernis erregend, weil ihr Tun und Schaffen aus dem Herzen kommt, wo ihr Glaube wurzelt.“
Zitieren wir noch einmal die Volkskundlerin Elisabeth Roth, die (1985) auf einen speziellen Krippentypus verweist: „Moderne Gestaltung versteht das Hier und Heute der Heimatkrippe nicht primär regional, sondern als unsere Gegenwart mit ihren Sorgen und Ängsten. Sie verzichtet auf Sujets wie Haus und Landschaft, Stall oder Höhle.“ Durch derartige Aktualisierung, die von manchen auch als inadäquate Politisierung erachtet werde, konfrontierten einige Krippenbauer mit brennenden Problemen der Zeit, so Prof. Roth.
„Sage, wo ist Bethlehem?“ Mit diesem Titel eines seiner Gedichte greift Rudolf Otto Wiemer die oben behandelte Thematik auf. In den Schlusszeilen der einzelnen Verse antwortet er auf die gestellte Frage: „Bethlehem ist überall.“ „Bethlehem ist jetzt und hier.“ „Bethlehem ist jederzeit.“
Obwohl das eine Bethlehem einmalig, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus einzigartig ist, ist Bethlehem zugleich überall dort, wo Gott den Menschen begegnet, wo Menschen Gott die Ehre geben, wo Menschen einander in Frieden und Liebe begegnen. Das Herausfordernde, aber auch Charmante und zutiefst Weihnachtliche an Bethlehem ist, dass es überall auf dieser Welt sein kann, wo Menschen bereit sind, sich auf einen Neuanfang einzulassen. Dort, wo Bethlehem ist, wird Jesus täglich neu geboren in den Herzen der Menschen; Bethlehem liegt im Herzen.
Ganz in diesem Sinne dichtete Paul Gerhardt (1653) in der Hinwendung an Jesus: „So lass mich doch dein Kripplein sein…“ Diese Worte gehören zu einem der schönsten Weihnachtslieder: „Ich steh an deiner Krippen hier“. Im Evangelischen Sonntagsblatt für Bayern (Nr. 51/52-2008) wird es „ein intimes Weihnachtslied“, „ein großes Anbetungslied“ genannt, aus dem „staunende, optisch-sinnliche Wahrnehmung“ spricht. Zu solcher Wahrnehmung möchten Weihnachtskrippen im Allgemeinen und Heimatkrippen im Besonderen verhelfen.

(bg. 2008)